2005: Ketzer zum Weltjugendtag

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Köln – Mit einer Kirchenaustrittsparty am Amtsgericht Köln hat die Gegenveranstaltung des Weltjugendtages, “Religionsfreie Zone”, auf den Besuch von Papst Benedikt XVI. in Deutschland reagiert. “Wir rechnen mit bis zu 100 Austritten im Laufe des Tages”, sagte Hartmut Schwarz vom Bündnis “Ketzerkollektiv”, das sich ausschließlich anlässlich des Weltjugendtags in Köln gegründet hat. “Für diese Sache haben wir zusätzliche Rechtspfleger eingesetzt”, sagte ein Sprecher des Kölner Amtsgerichts am Donnerstag.
19.08.2005 dpa

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Der Mensch macht die Religion,
nicht die Religion den Menschen.¹

Warum wir den Weltjugendtag nicht unwidersprochen über uns ergehen lassen wollten:

In diesen Tagen sind hunderttausende Jugendliche in Köln, um den katholischen Weltjugendtag zu erleben, mit dem “Höhepunkt” des Papstbesuches in der Stadt.

Prinzipiell ist es schön, wenn Menschen aus aller Welt zusammenkommen, um friedlich miteinander zu feiern.

Auch gemeinsame Religionsausübung ist nicht das primäre Ziel unserer Kritik. Es mag sein, dass es ein spirituelles Grundbedürfnis gibt, das Menschen hilft, ihren Platz in der Welt zu definieren und Gemeinschaft mit anderen zu erfahren.

Was uns stört, ist die Instrumentalisierung dieses Bedürfnisses durch die Institution katholische Kirche, die als solche hierarchisch, autoritär, frauenfeindlich, homophob und intolerant gegenüber anderen Glaubensrichtungen ist, und diese Einstellung in einer langen und blutigen Geschichte nie wesentlich geändert hat. Auch die letzten beiden Päpste, JPII und BXVI, die in einer beispiellosen Medienkampagne regelrecht zu Popstars avanciert sind und die Worte Frieden und Gerechtigkeit wie eine Reklametafel vor sich hertrugen und tragen, repräsentieren eine zutiefst antiemanzipatorische und repressive Ideologie. Die Verbindung JPIIs zum erzkonservativen Opus Dei, einer innerkirchlichen ultrakonservativen Organisation, die manche Kritiker als faschistoid bezeichnen sowie die überfallartige Heiligsprechung dessen Gründers Josémaria Escrivá de Balaguer sind nur ein Indiz für diese Einstellung. Die Aussagen JPIIs zur Stellung der Frau, zur Abtreibung, oder zur Homosexualität verraten eine offene Mißachtung des geborenen Lebens. So z.B. kommt angesichts der AIDS-Katastrophe in Afrika die strikte Ablehnung der katholischen Kirche, Kondome zu empfehlen, einer wissentlichen Duldung des Todes Hunderttausender gleich.

Wer glaubt, jetzt wo WIR PAPST sind, würde sich das ändern, irrt. BXVI war als Joseph Kardinal Ratzinger Leiter der Vatikanischen Glaubenskongregation, des Nachfolgers der heiligen Inquisition und somit oberster Glaubenswächter und konservativer Vordenker JPII. Auch er hat sich bereits kurz nach Amtsantritt ablehnend zur ?Homo-Ehe? und überhaupt abweichender (?anarchischer?) Lebensweisen geäussert und mit der Aufforderung, Katholiken sollten sich die Volksabstimmung zum Gentechnikgesetz in Italien boykottieren, aktiv in die Politik eingegriffen. Die unselige Diskussion um den ?Gottesbezug? in der Präambel der EU-Verfassung ist ein weiteres unangenehmes Beispiel für die Einflussnahme der Religion auf die Politik.

Nun gibt es Menschen, die daran erinnern, das Christentum trage auch eine befreiende Botschaft in sich, wie zum Beispiel im quasi-sozialistischen Gemeinschaftsgedanken des Urchristentums oder der “Option für die Armen” der Befreiungstheologie. Diese Gedanken widersprechen aber dem hierarchischen Prinzip des “Herr-Gottes” und dessen Verfestigung in der autoritären Struktur Kirche, in der sie dann folgerichtig auch bekämpft werden. Beispiel: Die Aussage JPIIs, nicht zuletzt auf der Analyse Ratzingers beruhend, die Befreiungstheologie sei marxistisch, bedeutete für viele ihrer Anhänger in Lateinamerika faktisch das Todesurteil, gab sie doch den diktatorischen Gewaltregimes den moralischen Segen für Entführung und Mord. Auch ein vom frühen Ratzinger überlefertes Plädoyer für einen “Demokratischen Sozialismus”, man höre und staune, kann nicht über die autoritätre und systemstabilisierende Grundstruktur der Kirche hinwegtäuschen.

Wir kritisieren die katholische Kirche, weil sie nun mal da ist und gerade hier in Köln einen nicht zu unterschätzenden Machtfaktor darstellt. Angeführt von einem Kardinal, der sich nicht entblödet, Abtreibung mit dem Holocaust zu vergleichen und Schwulen und Lesben rät, sie sollten das ?Gift? der Homosexualität ?ausschwitzen?, ganz zu schweigen von Soldatengottesdiensten und Waffensegen.

Wir kritisieren die katholische Kirche, weil sie gerade jüngst anlässlich der Wahl Ratzingers zum Papst, den Vorwand geliefert hat, einen ekelhaften Nationalismus zu entfesseln, der in der Feststellung gipfelte, daß alleine durch die Tatsache, daß ein Deutscher wieder Papst werden könne, Deutschland wieder in Kreis der zivilisierten Nationen aufgenommen worden sei, als ob nie etwas gewesen wäre.

Religion ist keine Meinung, sie greift tief in das emotionale Erleben und die Lebenspraxis der Menschen ein. Heilserwartung und religiöse Verhaltensregeln stellen in dieser Kombination ein ideales Herrschaftsinstrument dar. Das Bewusstsein der Gottesausrwähltheit und der Überlegenheit des eigenen Glaubens – insbesondere der monotheistischen Religionen – stellen ein fast unüberwindliches Hindernis für Toleranz und Verständnis dar und bieten einen idealen Angriffspunkt zur politischen Instrumentalisierung der Menschen.

Im Zeitalter des globalen Kapitalismus sieht sich der weitaus überwiegende Anteil der Weltbevölkerung völlig ohnmächtig einer ungerechten Weltordnung gegenüber, die Ihnen selbst die essentiellen Lebensgrundlagen entzieht. Nach dem Scheitern der autoritärsozialistischen nationalen Befreiungsbewegungen, mit wachsender Verelendung und sinkendem Bildungsstand finden viele Menschen Hoffnung in einer Religion, die ihren Selbstwert stärkt, Gerechtigkeit verspricht und das Böse klar definiert und verortet.

Das Gefühl der Gottesauserwähltheit und der Überlegenheit der eigenen Religion, das den religiösen Fundamentalismus auszeichnet, stellt heute in vielerlei Form den verhärteten Kern der gewalttätigsten politischen Konflikte dar.

Als Beispiel mag hier der nahe Osten dienen: Islamischer Fundamentalismus, der den Staat Israel als Okkupant der heiligen Stätten vernichten will und die Einflussnahme der USA als Bedrohung der eigenen Kultur versteht und mit Terror zu bekämpfen versucht, steht einem christlichen Fundamentalismus in den USA gegenüber, der seine Idee von Demokratie kurzerhand zur Glaubensfrage erhebt, um Machtpolitik zu begründen und nebenher einen jüdischen Fundamentalismus unterstützt, der das göttliche Recht auf das gelobte Land für sich allein beansprucht. Es verwundert nicht, das all diese fundamentalistischen Ideologien nach innen eine ganz ähnliche patriarchalische und starr autoritäre Struktur aufweisen.

Das soll nicht heissen, dass all die jungen Menschen, die sich hier in Köln versammelt haben, Fundamentalisten wären, aber auch die katholische Kirche gebiert ihre eigenen funtamentalistischen Stömungen. Was also treibt sie dazu, einem greisen stockkonservativen Polen oder Bayern zuzujubeln als wäre es Madonna?

Liegt es daran, dass die katholische Kirche die Popkultur kapiert hat und einfach ein gigantisches PR-Event inszeniert, was nach zweitausend Jahren im Showgeschäft nicht verwundert, oder hat das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Sinngebung und Gerechtigkeit nicht auch seinen Grund in der zunehmenden Desintegration der Gesllschaften im globalen Kapitalismus? Dieser bietet nämlich weder Gerechtigkeit noch Werte ausser der Logik der Verwertung. Die ungerechte Weltordnung ist zu offensichtlich. Mikrostrukturen in den Gesellschaften werden im Zuge einer neuen Organisation der Arbeit, der Information und des Zusammenlebens aufgelöst, vereinzelt lebende Menschen sind der bedeutendste Wirtschaftsfaktor der Binnenökonomie (wenn jeder alles haben muss, kann man am meisten von einem bestimmten Gut verkaufen) sie sind flexibler ausbeutbar und leichter kontrollierbar.

Hier bietet die Kirche jahrhundertealte Werte und einfache Welterklärungen und nicht zuletzt das Gefühl, nicht allein zu seinund zu einem grösseren Ganzen zu gehören. Dass dies allerdings mit der oben kritisierten strukturellen Hierarchie und Entmündigung und der Diskriminierung alternativer, selbstbestimmter Lebensweisen einhergeht, ist den meisten Weltjugendtagsbesuchern entweder nicht bewusst- oder egal.

Dass für dieses Massenereignis einer grundundemokratischen Organisation, die inzwischen nur noch einen marginalen Teil der Bevölkerung repräsentiert eine ganze Stadt, ja eine ganze Region in den Ausnahmezustand verfällt und die Medien gleichgeschaltet werden (was sie in Köln eigentlich sowieso schon sind) ärgert uns ganz besonders.

Dass wir diese Institution und ihre patriarchale Ideologie ablehnen und eigene Ideen davon haben, was Gerechtigkeit ist, wie ein selbstbestimmtes und gemeinschaftliches Leben organisiert werden kann und wir uns nicht von alten Männern vorschreiben lassen wollen, wen wir wie zu lieben haben, soll unser Protest ausdrücken.

Und dieser Protest soll laut, bunt und lustvoll sein.

Das Ketzer-Kollektiv

1) Zitat: Karl Marx

 

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